»Wenn man noch etwas Huhn vom Vortag übrig hat«, sagte Tolliver, »dauert es nur zwanzig Minuten, bis der Reis gekocht ist.«

»Ich bin trotzdem schwer beeindruckt«, sagte ich. Mein Magen knurrte vor Appetit.

Wir fanden Plastikgabeln, Löffel und ein paar Pappteller und verputzten die Hälfte des Auflaufs auf der Stelle. Das war kein Restaurantessen. Das duftete nach Hausmannskost. Nach einem richtigen Zuhause, von wem auch immer. Nachdem wir die Form wieder mit Alufolie verschlossen und die Reste in den alten Kühlschrank gestellt hatten, legte ich mich hin, um ein Schläfchen zu machen. Tolliver ging hinaus, um die Gegend zu erkunden. Das Feuer knisterte beruhigend, und ich wickelte mich in eine Decke. Wir hatten die Betten gemacht, gemeinsam, da mich mein angebrochener Arm doch sehr beeinträchtigte. Kissen waren keine da - wahrscheinlich brachte die Familie jedes Mal welche von zu Hause mit -, aber Tolliver und ich hatten jeweils ein kleines Kissen im Auto. Als ich erst einmal warm und satt unter der Decke lag, schlief ich gleich ein. So gut hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Als ich aufwachte, war es fast vier. Tolliver lag ausgestreckt auf seinem Bett und las. Das Feuer brannte immer noch, und er hatte weiteres Holz hochgeholt und zwei Stühle vor den Kamin gestellt.

Kein Laut war zu hören: kein Verkehr, keine Vögel, keine Menschen. Durch das Fenster über meinem Kopf konnte ich die kahlen Äste einer Eiche reglos in der Luft stehen sehen. Ich legte meine Hand auf die Scheibe. Sie war wärmer. Das war kein gutes Zeichen. Eis und Schnee würden kommen, da war ich mir sicher.

»Warst du angeln?«, fragte ich Tolliver, nachdem ich ihm, mich räkelnd, signalisiert hatte, dass ich wach war.

»Ich weiß gar nicht, ob man auch im Winter angelt«, sagte er. Er hatte keinen Kumpel zum Vater gehabt, für Tolliver hatte es keine Jagd- und Angelausflüge gegeben. Sein Vater war mehr daran interessiert gewesen, finsteren Gestalten dabei zu helfen, die Gesetze zu umgehen, und anschließend mit ihnen high zu werden, statt mit seinem Sohn in die Wälder zu gehen, um eine echte Beziehung aufzubauen. Tolliver und sein Bruder Mark hatten sich andere Fähigkeiten aneignen müssen, um in der Schule ihren Mann zu stehen.

»Gut, denn ich habe keine Ahnung, wie man Fische ausnimmt«, sagte ich. Er kam von seinem Bett herüber und setzte sich auf meine Bettkante. »Wie geht es deinem Arm?«

»Ganz gut.« Ich bewegte ihn ein wenig. »Und mein Kopf fühlt sich deutlich besser an.« Ich machte ihm Platz, und er streckte sich neben mir aus.

Dann sagte er: »Während du geschlafen hast, habe ich den Anrufbeantworter in unserer Wohnung abgehört.«

»Hm-hm.«

»Ein paar Leute haben Nachrichten hinterlassen. Es ging unter anderem um einen Job in Ost-Pennsylvania.«

»Wie lange fährt man dorthin?«

»Das habe ich noch nicht ausgetüftelt, aber ich denke, so sieben Stunden.«

»Gar nicht mal so übel. Was ist das für ein Job?«

»Ein Friedhofsjob. Die Eltern wollen sich sicher sein, dass ihre Tochter nicht ermordet wurde. Der Gerichtsmediziner meinte, es sei ein Unfall gewesen, das Mädchen sei ausgerutscht und mehrere Stufen hinuntergefallen. Die Eltern haben von Bekannten erfahren, dass ihr Freund sie mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen hat. Die Freunde haben zu viel Angst vor dem jungen Mann, um ihn anzuzeigen.«

»Schön blöd«, sagte ich. Aber wir haben es oft mit blöden Leuten zu tun, mit Menschen, die einfach nicht begreifen können, dass komplizierte Erklärungen fast nie funktionieren, dass sich Ehrlichkeit in der Regel auszahlt und dass die meisten Leute, die angeblich verunglückt sind, tatsächlich verunglückt sind. Wenn der Freund so furchterregend war, dass sich keiner traute, den Mund aufzumachen, konnte es gut sein, dass der »Sturz« dieses Mädchens eine Ausnahme war.

»Vielleicht kommen wir hier so rechtzeitig weg, dass wir den Auftrag annehmen können«, sagte ich. »Haben die Leute irgendwelche Termine genannt?«

»Der Junge wird in Kürze die Stadt verlassen - er hat sich zur Armee gemeldet«, sagte Tolliver. »Sie wollen wissen, ob er schuldig ist, bevor er mit seiner Grundausbildung beginnt.«

»Sie wissen Bescheid, oder? Sie wissen, dass ich ihnen das nicht sagen kann. Ich kann ihnen nur sagen, ob dem Mädchen auf den Kopf geschlagen wurde, aber nicht, wer es getan hat.«

»Ich habe kurz mit den Eltern gesprochen. Sie meinen, dass nur er es gewesen sein kann, falls sie auf den Kopf geschlagen wurde. Und sie wollen nicht, dass er die Stadt verlässt, bevor sie die Möglichkeit hatten, ihn noch mal in die Zange zu nehmen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir ihnen in den nächsten achtundvierzig Stunden Bescheid geben.«

Ich hasse es, dass ich den Leuten nicht einfach Ja oder Nein sagen kann. Aber man muss den Anweisungen der Polizei Folge leisten, bis sie unglaubwürdig werden. Meine Aussage kann sowieso nicht vor Gericht verwendet werden. Also ist es Blödsinn, wenn mich die Polizei an der Abreise hindert. Sie glaubt mir nicht, aber gehen lassen will sie mich auch nicht.

»Was man auch tut, es ist verkehrt«, murmelte ich. Ich weiß noch, wie die Mutter meiner Mutter das immer sagte. Das ist eine der wenigen Erinnerungen, die ich an sie habe. Ich denke mit der Zuneigung eines kleinen Kindes an sie, obwohl sie nie eine der reizenden alten Omis gewesen ist, die man in der Fernsehwerbung sieht. Sie hat nie Plätzchen gebacken oder einen Pullover gestrickt. Und was das Wissen betrifft, das sie an uns weitergegeben hat, war das vorher erwähnte Sprichwort noch einer ihrer geistreichsten Sätze. Als meine Mutter wegen ihrer Drogensucht kriminell wurde, war sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Sich von ihrer bedürftigen, unehrlichen Tochter loszusagen, bedeutete selbstverständlich auch, den Kontakt zu uns abzubrechen. Aber vielleicht war ihr die Entscheidung nicht leichtgefallen.

»Hörst du manchmal was von deiner Großmutter?«, fragte ich Tolliver. Er konnte meinen Gedanken nicht folgen, wirkte aber nicht allzu verwirrt.

»Ja, sie ruft hin und wieder an«, sagte er. »Ich versuche, mich einmal im Monat bei ihr zu melden.«

»Das ist die Mutter deines Vaters, stimmt's?«, fragte ich.

»Ja, die Eltern meiner Mutter sind schon lange tot. Sie war die Jüngste, und sie waren schon ziemlich alt, als sie starben. Sie sind einfach an Altersschwäche gestorben, hat mein Vater gesagt, etwa fünf Jahre nach meiner Mutter.«

»Wir haben nicht viele Verwandte.« Die McGraw-Cottons schienen einen guten Familienzusammenhalt zu haben. Parker liebte seine Mutter, obwohl sie noch einmal geheiratet hatte. Und sie hielt ihm die Treue, anstatt sich mit ihrem vielen Geld nur noch in Country-Club-Kreisen zu bewegen. Laut Twyla hatten Archie Cottons Kinder keine Probleme mit der Heirat gehabt.

»Nein.« Tolliver schien das nicht weiter zu beunruhigen. »Mir reichen die, die wir noch haben.«

Ich hob meine gesunde Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Da hast du auch wieder recht«, meinte ich betont fröhlich, und er lachte ein wenig.

»Hör mal, wir sollten schon etwas früher in die Stadt fahren.«

»Warum?«

»Im Krankenhaus waren heute Morgen die Computer ausgefallen, und sie wollten deine Rechnung noch mal überprüfen.«

»Du meinst, ich wurde entlassen, ohne dass du die komplette Rechnung bezahlt hast?«

»Ich habe sie bezahlt, aber sie wollten überprüfen, ob nicht noch irgendwelche Kosten angefallen sind. Deshalb haben sie mich gebeten, vorbeizuschauen.«

»Na gut.«

»Solltest du jetzt nicht irgendwelche Medikamente einnehmen?«

Wir überlegten, und ich nahm eine Tablette. Ich beschloss, die Schmerzmittel in meiner Handtasche mitzunehmen. Ich konnte alleine ins Bad gehen, aber Tolliver musste mir beim Anziehen helfen. Ich erlaubte ihm auch, mir die Haare zu bürsten. Mit einer Hand war das irgendwie unpraktisch. Wir schafften es, den Kopfverband etwas zu verstecken.

Tolliver ging die Stufen vor mir hinunter, ich folgte ihm vorsichtig. Der relativ warme Wind, der mir ins Gesicht blies, überraschte mich. Es wurde schnell dunkel.

»Und aus dem Norden strömt kalte Luft ein?«, fragte ich.

»Ja, morgen Abend«, sagte er. »Tagsüber wird es morgen noch eine ganze Weile so warm bleiben. Wir sollten die Nachrichten hören, wenn wir in die Stadt fahren.«

Das taten wir auch, und der Wetterbericht war alles andere als ermutigend. Die Temperatur würde morgen um die fünf Grad sein. Gegen Abend würden dann die warmen auf kalte Luftschichten prallen, sodass man sich auf einen Eissturm gefasst machen musste. Das klang furchtbar. Ich habe das erst ein Mal erlebt, als Kind, aber ich kann mich noch an die Bäume in unserem Wohnwagenpark erinnern, an die bittere Kälte und den Stromausfall. Die dreißig Stunden, bis die Elektrizität wieder da war, waren uns endlos vorgekommen. Ob wir es schaffen würden, die Gegend zu verlassen, bevor der Sturm kam?

Die Krankenhauslobby lag mehr oder weniger verlassen da, und die diensthabende junge Frau hinter dem Schalter war mit Bürokram beschäftigt. Sie war nicht allzu erfreut, uns zu sehen, blieb aber höflich. Nachdem sie einen Blick auf die gelbe Haftnotiz auf meiner Akte geworfen hatte, griff sie zum Telefon. Sie drückte ein paar Tasten und sagte: »Mr Simpson? Sie sind hier.« Nach dem Auflegen meinte sie: »Mr Simpson, der Verwalter, wollte Bescheid wissen, wenn Sie vorbeischauen. Er ist in einer Minute da.«

Wir nahmen auf den gepolsterten Stühlen mit Metallbeinen Platz und starrten die Zeitschriften an, die vor uns auf dem Resopalcouchtisch lagen. Die zerfledderten Exemplare von Field and Stream, Parenting und Better Homes and Gardens regten uns nicht zum Lesen an, sodass ich die Augen schloss und mich tiefer in meinen Stuhl sinken ließ. Ich ertappte mich dabei, von Weihnachtsbäumen zu träumen, von weißen Weihnachtsbäumen mit goldenen Girlanden und goldenem Schmuck. Von grünen mit roten Kardinalvögeln auf den Ästen, von Bäumen, die über und über mit Muranoglaskugeln und künstlichen Eiskristallen geschmückt waren und sich unter Unmengen von Lametta bogen. Ich erschrak richtig, als ich die Augen wieder aufmachte und auf lange, in schwarzen Anzugstoff gehüllte Beine vor mir blickte. Barney Simpson ließ sich in einen Stuhl gegenüber fallen. Seine Frisur war noch verstrubbelter als gestern, als er in mein Krankenhauszimmer gekommen war. Ob er wohl jemals versucht hatte, seine Haare mit Pomade zu glätten und etwas weniger widerspenstig zu machen?

»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, hob er an. »Ich habe eine Haftnotiz auf ihre Akte geklebt, damit mich Britta anruft, wenn Sie kommen.«

»Warum?«, fragte Tolliver. Ich setzte mich auf und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.

»Weil ich dachte, Sie fahren vielleicht weg und kommen nicht zu unserem Gottesdienst heute Abend, wenn ich Sie nicht hier abfange und Sie daran erinnere«, gab Simpson zu verstehen. Er wirkte dabei ganz aufrichtig. »Britta hat mir erzählt, dass es bei Ihrer Entlassung heute Morgen einen Computerabsturz gab, also beschloss ich, mir das zunutze zu machen.«

»Gehören Sie zur selben Gemeinde? Zu der von Doak Garland?«

»Oh, ich besuche alle paar Wochen den Sonntagsgottesdienst«, sagte er und sprach damit etwas aus, was die meisten Südstaatler niemals zugeben würden. »Ich muss gestehen, dass ich kein regelmäßiger Kirchgänger bin. Dafür schlafe ich an Sonntagen viel zu gerne aus.«

Er schien zu erwarten, dass wir ihm beipflichteten und so etwas sagten wie: »Wer tut das nicht?« oder: »Auch wir gehen nicht jeden Sonntag zur Kirche«. Aber ich schwieg. Tolliver und ich gehen nie in die Kirche. Keine Ahnung, woran Tolliver glaubt. Ich glaube an Gott, aber nicht an die Kirche. Von Kirchen bekomme ich Gänsehaut. Das einzige Mal, dass ich in den letzten fünf Jahren in einer Kirche gewesen war, war aufgrund einer Beerdigung. Die Gegenwart der Leiche lenkte mich unheimlich ab. Sie raunte mir den ganzen Gottesdienst über etwas zu. Wäre das Jeff McGraws Beerdigung gewesen und kein Gedenkgottesdienst für die verstorbenen Jungen, hätte ich nie eingewilligt zu kommen.

»Abe Madden wird auch da sein«, sagte Barney Simpson. »Das wird bestimmt interessant. Sandra hat zwar nicht viel dazu gesagt, aber es ist allgemein bekannt, dass Abe die Suche nach den vermissten Jungen nicht so vorangetrieben hat, wie Sandra das in ihrer Zeit als Hilfssheriff wollte. Und es ist auch kein Geheimnis, dass sie unter anderem deswegen zum Sheriff gewählt wurde.«

Barney Simpson nickte uns ernsthaft zu, in seiner großen, schwarzumrandeten Brille spiegelte sich die Deckenbeleuchtung.

»Dann wird es wohl ein etwas aufregenderer Gedenkgottesdienst als sonst«, sagte Tolliver. »Unsere Rechnung ist also fertig? Ihre Computer funktionieren wieder?«

»Ja, wir machen noch heute Abend von allem eine Sicherheitskopie, damit in dem aufziehenden Eissturm nichts verloren geht. Ich nehme an, Sie haben den Wetterbericht auch gehört. Haben Sie schon eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich nehme an, Sie wohnen wieder im Motel. Sie hatten Glück, noch ein Zimmer zu bekommen.«

»Nein«, sagte Tolliver. »Die waren alle schon vergeben.«

Er ging zum Fenster, um die Rechnung zu kontrollieren, während mich Barney erwartungsvoll ansah und darauf wartete, dass ich ihm sagte, wo wir untergekommen waren. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Keine Ahnung, warum ich so gereizt war. Ein Schlag auf den Hinterkopf kann nicht alles entschuldigen. Ich zwang mich, höflich zu bleiben.

»Gibt es auch eine Mrs Simpson?«, fragte ich, obwohl mich das kein bisschen interessierte.

»Es gab eine«, sagte er bedauernd. »Aber unsere Wege haben sich vor ein paar Jahren getrennt, sie und meine Tochter sind nach Greenville gezogen.«

»Sie sehen Ihre Tochter also noch?«

»Ja, sie besucht mich manchmal und trifft ihre Freunde von der Junior Highschool. Ich kann kaum glauben, dass sie schon aufs College geht. Haben Sie Kinder?«

»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

»Nun, sie sind nicht nur ein Segen«, sagte der Krankenhausverwalter tröstend, wie um mir zu versichern, dass ich deswegen nicht traurig sein müsste.

Ich stand auf und ging zu Tolliver, dem Britta gerade eine Quittung reichte.

»Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«, fragte Simpson, und wir versuchten unser Erstaunen zu verbergen.

Tolliver sah mich kurz an, um festzustellen, wie ich auf diese unerwartete Einladung reagierte, und sagte dann: »Nein danke, wir haben bereits andere Pläne. Aber wir wissen Ihr Angebot sehr zu schätzen.«

»Natürlich.«

Britta hatte ihren Schalter geschlossen, und ich konnte ihre Silhouette hinter der Scheibe erkennen, als sie aufstand und ihren Mantel anzog.

Das Krankenhaus war mehr oder weniger »geschlossen«.

Wir gingen ebenfalls und verließen es durch die Eingangstür, begleitet von der Quittung und Simpsons Abschiedsworten. »Muss der einsam sein«, sagte ich.

»Er steht eben auf dich«, sagte Tolliver düster.

»Quatsch«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. »Er steht kein bisschen auf mich. Er nimmt mich nicht mal als Frau wahr.«

»Warum wollte er sich dann mit uns anfreunden?«

»Wahrscheinlich, weil wir hier neu sind«, sagte ich. »So viele Gelegenheiten, neue Leute kennenzulernen, wird er hier nicht haben. Ich wette, seine Arbeit beansprucht ihn ganz schön. Wir sind eine willkommene Abwechslung.«

Tolliver zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei - wo möchtest du essen?«

»Wir sind hier in Doraville, da ist die Auswahl nicht besonders groß.«

»Fürs Sonic-Drive-In ist es zu kalt. Es gibt einen McDonald's und einen Satellite Steaks.«

»Letzteres muss uns genügen.«

Satellite Steaks war etwas Ähnliches wie Golden Coral oder Western Sizzlin'. An diesem kalten Abend, für den ein Gedenkgottesdienst und schlechtes Wetter angekündigt war, schienen alle dieselbe Idee gehabt zu haben. Einige identifizierten wir sofort als Fremde, sie mussten zu den Nachrichtenleuten gehören. Es waren aber auch viele Einheimische da (die in der touristischen Sommersaison wahrscheinlich nicht herkamen) und ein paar Durchreisende, die hier Rast machten. Der Laden war proppevoll. Manfred und Xylda saßen an einem Vierertisch. Ohne mich mit Tolliver abzusprechen, ging ich sofort zu ihnen an den Tisch und fragte, ob wir uns dazusetzen dürften.

»Gern«, sagte Xylda. Sie hatte sich bestimmt eine Tonne Make-up ins Gesicht geklatscht. Ihre Begegnung mit der Presse vor der Scheune schien sie dazu animiert zu haben, noch mehr Aufwand zu treiben als sonst. Ihre Augen sahen aus wie die von Kleopatra, und sie hatte sich doch tatsächlich wie eine Zigeunerin einen Schal um den Kopf gewickelt, unter dem ihre knallroten Locken hervorquollen. Diese bildeten einen erschreckenden Kontrast zu ihrem bleichen, runden, faltigen Gesicht. Ich setzte mich neben sie und bekam eine riesige Wolke abgestandenen Parfüms ab. Tolliver musste notgedrungen neben Manfred Platz nehmen, doch das würde er schon überleben. Manfred roch bestimmt besser als seine Großmutter.

»Wie geht es dir?«, fragte Manfred aufrichtig besorgt.

»Gut«, sagte ich. »Meinem Kopf geht es schon viel besser. Aber der Arm tut weh.«

»Wie ich hörte, seid ihr aus dem Motel ausgezogen. Ich dachte, ihr seid schon längst weg.«

»Morgen oder übermorgen«, sagte Tolliver. »Wir warten nur noch darauf, von den Jungs von der Bundesstaatspolizei verhört zu werden, danach sind wir hier weg. Und ihr?«

»Ich muss mindestens bis morgen Nachmittag bleiben«, sagte Xylda im Flüsterton. »Es wird noch mehr Tote geben. Und die Eiszeit steht auch kurz bevor.«

Jetzt verstand ich. »Der Wetterbericht hat einen Eissturm vorhergesagt.«

»Wir hoffen, vorher wegzukommen«, sagte Manfred leise. »Großmutter sollte nicht unnötig lange von einem großen Krankenhaus entfernt sein. Ich werde sie so bald wie möglich wieder nach Hause fahren.« Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und sah die Trauer in seinem Gesicht. Am liebsten hätte ich ihn umarmt.

Xylda sah aus, als höre sie Stimmen aus der Ferne. Ich machte mir ernsthaft Sorgen um sie. Bisher hatte ich sie eher als Betrügerin abgetan, auch wenn sie wirklich helle Momente gehabt hatte. Es waren nur viel zu wenige in viel zu großen Abständen, als dass sie davon hätte leben können. Aber jetzt schien sie andauernd »aktiv« zu sein. Die Phasen, in denen sie rein auf Verdacht arbeitete und die ihr geholfen hatten, ihren (wenn auch betrügerischen) Lebensunterhalt zu sichern, schienen immer kürzer und seltener zu werden.

Was wohl Manfred machte, wenn sie nicht mehr war? Er war jung, und noch standen ihm alle Möglichkeiten offen. Er konnte aufs College gehen und sich einen ganz normalen Job suchen. Er konnte eine Zirkusausbildung machen. Er konnte von der Hand in den Mund leben und die auf kleinen Betrügereien beruhende Existenz weiterführen, die Xylda ihm vorgelebt hatte. Doch jetzt war weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort, ihn nach seinen Zukunftsplänen zu fragen, da diejenige, die ihn daran hinderte, neben mir saß und ihre Bluse mit Salatdressing bekleckerte.

Xylda sagte: »Aus diesem Jungen wird noch mal ein Mörder.« Zum Glück sprach sie relativ leise. Ich wusste gleich, dass sie Chuck Almand meinte.

Auch so ein junger Mann, dem noch alle Möglichkeiten offenstanden. »Aber sicher wissen wir das nicht. Noch kann er sich retten. Vielleicht findet sein Vater einen guten Therapeuten, der seinen seelischen Abgründen zuleibe rückt.« Ich glaubte nicht daran, wollte aber immerhin die Möglichkeit einräumen.

Manfred schüttelte den Kopf. »Ich kann es kaum fassen, dass er nicht verhaftet wurde.«

»Er ist noch minderjährig«, sagte Tolliver. »Und es gibt keine belastenden Zeugenaussagen, nur das, was er selbst zugegeben hat. Meiner Meinung nach würde ihm das Gefängnis auch nicht helfen. Im Gegenteil. Vielleicht würde er dort nur feststellen, wie viel Spaß es macht, andere zu quälen.«

»Im Gefängnis stünde er sicherlich ganz unten in der Hackordnung«, sagte ich. »Man würde ihm dort bestimmt ziemlich wehtun, und dann kommt er raus und will sich doppelt und dreifach rächen.«

Wir hingen unseren Gedanken nach. Die Kellnerin eilte herbei, um unsere Bestellungen aufzunehmen und Manfred und Xylda zu fragen, ob sie noch etwas zu trinken wollten. Sie nahmen das Angebot beide dankend an, und es dauerte ein paar Minuten, bis wir unsere Unterhaltung fortsetzen konnten.

»Ob es wohl in jedem Bezirk ein solches Kind gibt?«, überlegte Tolliver laut. »Eines, das Spaß daran hat, anderen Schmerzen zuzufügen und Macht über Schwächere zu haben?«

»Gab es denn so jemanden in unserer Schule in Texarkana?«, fragte ich überrascht.

»Ja, Leon Stripes. Erinnerst du dich noch an ihn?«

Leon war schon in der sechsten Klasse 1,82 m gewesen. Leon war schwarz, Mitglied des Footballteams und machte den gegnerischen Mannschaften eine Heidenangst. Wahrscheinlich auch der eigenen Mannschaft.

Ich erzählte Xylda und Manfred von Leon. »Und er hat anderen gern Schmerzen zugefügt?«

»O ja«, sagte Tolliver grimmig. »Und ob. Er nahm Leute ohne jeden Grund in den Schwitzkasten, nur um sie nach Luft japsen zu hören.«

Ich bekam eine Gänsehaut vor lauter Abscheu. Mit einer Hand machte ich meinen Geldbeutel auf und zog mein Fläschchen mit den Vitamintabletten heraus. Ich schob es Tolliver hin. Dieser öffnete den kindersicheren Verschluss und holte eine heraus. Ich nahm sie ein.

»Im Ernst, wie geht es dir?«, fragte Manfred. »Tut der Arm sehr weh?«

Ich zuckte die Achseln. »Die Schmerzmittel wirken ziemlich gut. Ich fürchte, ich werde während des Gedenkgottesdienstes einschlafen.«

»Es wird dir schon bald viel besser gehen«, sagte Xylda, und ich fragte mich, ob dieser Satz hellseherischen Fähigkeiten oder einfach nur ihrem unverbesserlichen Optimismus geschuldet war.

»Und was ist mir dir, Xylda?« Ich sah sie neugierig an. »Warst du letzten Monat nicht im Krankenhaus?« Es gibt ein Internetforum für Leute wie uns, die auf dem Gebiet der paranormalen Phänomene tätig sind. Ich schaue dort von Zeit zu Zeit rein.

»Ja«, sagte sie, »aber das Krankenhaus ist Gift für meine Seele. Zu viele negative Schwingungen. Zu viele verzweifelte Menschen. Ich werde nicht dorthin zurückgehen.«

Ich wollte schon protestieren, nahm aber den warnenden Blick wahr, den mir Manfred zuwarf.

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Tolliver. »Harper zieht bereits einen ganzen Kometenschweif an negativen Schwingungen hinter sich her, dabei war sie nur wenige Tage dort.«

Hätte ich die Kraft dazu gehabt - ich hätte ihn gegen das Schienbein getreten. Ich streckte ihm die Zunge heraus.

Tolliver und Manfred redeten während des Essens über gefahrene Kilometer, während Xylda und ich unseren eigenen Gedanken nachhingen. Als Tolliver auf die Toilette ging, und Manfred ihre Rechnung zahlen gegangen war, sagte sie: »Ich werde bald sterben.«

Die Schmerzmittel hatten eine so starke Wirkung, dass ich das relativ gelassen hinnahm. »Es tut mir sehr leid, dass du damit rechnest«, sagte ich, womit ich mich vermutlich immer noch auf der sicheren Seite befand. »Hast du Angst?«

»Nein«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube nicht. Ich habe mein Leben genossen und versucht, es gut zu leben. Ich habe nie Geld von Leuten genommen, die es sich nicht leisten konnten, und ich habe meine Tochter und meinen Enkel geliebt. Ich glaube, meine Seele wird in einen anderen Körper fahren. Ich finde es sehr tröstlich zu wissen, dass das, was mich ausmacht, nicht sterben wird.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich, ohne recht zu wissen, wie ich dieses Gespräch beenden sollte.

»Du wirst auf alle deine Fragen eine Antwort bekommen«, sagte sie. »Meine hellseherische Gabe funktioniert immer besser, je näher ich dem Ende komme.«

Dann sagte ich etwas, das mich sogar selbst überraschte. »Werde ich meine Schwester finden, Xylda? Werde ich Cameron finden? Sie ist tot, stimmt's?«

»Du wirst Cameron finden«, sagte Xylda.

Ich senkte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte Xylda nach einer längeren Pause, und ich hob meinen Kopf wieder und starrte sie fragend an. Manfred kehrte an den Tisch zurück, um ein Trinkgeld dazulassen. Tolliver stand am Kassentresen an. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. »Aber es gibt Wichtigeres, das du zuerst erledigen musst«, fuhr Xylda fort.

Ich verstand nicht, was wichtiger sein konnte, als die Leiche meiner Schwester zu finden. Ich versuchte mich mühsam in meinen Mantel zu schälen, während Xylda nach draußen eilte. Manfred half meinem rechten Arm in den richtigen Ärmel und legte mir den Mantel über die linke Schulter. Er beugte sich leicht vor und küsste mich auf den Hals. Er tat das wie nebenbei, sodass es mir lächerlich vorkam, deswegen viel Aufhebens zu veranstalten. Doch dann sah ich das Gesicht von Tolliver, dem dieser Kuss nicht entgangen war. Und Tolliver war wild entschlossen, ein großes Tamtam zu veranstalten. Deshalb griff ich mit meiner guten Hand nach seinem Arm und begann zur Tür zu gehen. Er war gezwungen, mich zu begleiten.

»Das war völlig harmlos«, sagte ich. »Ich habe mir nicht das Geringste dabei gedacht. Für mich ist er einfach nur ein junger Mann mit einer kranken Großmutter.« Ich wusste nicht, ob das irgendeinen Sinn ergab, aber die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. »Wir gehen jetzt zu diesem Gottesdienst. Los, sonst kommen wir zu spät.«

Irgendwie landeten wir im richtigen Wagen, und Tolliver ließ den Motor an, um die ersehnte Heizung anzuwerfen. Er legte mir mit einer unnötig heftigen Geste den Sicherheitsgurt an, und ich schrie auf, so sehr tat mir mein Arm weh.

»Es tut mir leid«, sagte er alles andere als überzeugend. »Der Kerl geht mir einfach auf die Nerven. Ständig baggert er dich an. Und dann dieses ganze Zeug in seinem Gesicht und sonst noch wo! Er kann es immer kaum erwarten, dich zu begrapschen.«

Anstatt zu schweigen und darauf zu warten, dass er sich beruhigte, was sicherlich besser gewesen wäre, sagte ich: »Darf mich denn niemand mögen?«

»Natürlich. Aber nicht er!«

Wäre es Tolliver lieber, wenn ich mich mit Barney Simpson oder Doak Garland zusammentat? »Warum nicht?«

Eine lange Pause entstand, in der Tolliver verzweifelt nach einer Antwort suchte. »Weil, na ja, weil er wirklich Chancen bei dir hätte«, sagte er. »Für andere gilt das nicht, weil wir immer unterwegs sind und du sie nie wiedersehen wirst. Aber er hat Verständnis für diese Art Leben und ist selbst mit Xylda unterwegs.«

Ich machte den Mund auf und wollte schon sagen, Du willst also nicht, dass ich einen Freund habe? Aber irgendetwas ließ mich verstummen. Kein Wort kam über meine Lippen. Tolliver war deutlicher geworden, als ich es je von ihm erwartet hätte, und ich hatte Angst, das Thema zu vertiefen.

»Er ist jünger als ich.« Irgendwas musste ich ja sagen.

»Aber nicht zu jung«, erwiderte mein Bruder. Mir fiel auf, dass er anfing, Manfred zu verteidigen, und ich unterdrückte ein Grinsen. Die Schmerztablette, die ich in der Hütte genommen hatte, entfaltete gerade ihre volle Wirkung. Ich spürte eine wohlige Wärme und hätte die ganze Welt umarmen können. Wenn ich jemals nach etwas süchtig werde, dann nach Schmerztabletten. Aber ich hatte nicht vor, nach irgendetwas süchtig zu werden. Sobald der Schmerz nachließ, würde ich auch wieder mit den Tabletten aufhören. Bei dem schlechten Beispiel, das mir meine Mutter gewesen war, musste ich ganz besonders auf mich aufpassen.

»Der Trick, keine Tabletten mehr zu nehmen, besteht darin, sich nicht mehr verletzen zu lassen«, sagte ich mit ernster Stimme.

Tolliver tat sich ein wenig schwer, mir zu folgen, aber er schaffte es. »Ja, du willst schließlich nicht noch einmal im Krankenhaus landen. Außerdem können wir uns nicht mehr beim Autofahren abwechseln, wenn du Tabletten nimmst.«

»Als ob du so scharf darauf wärst«, sagte ich.

Er lächelte, und schon ging es mir besser. »Und ob ich scharf darauf bin«, sagte er.

Auf dem Parkplatz der Mount Ida Baptist Church standen schon viele Autos. Ein örtlicher Polizist dirigierte die neu ankommenden Wagen. Tolliver fragte, ob er mich vor dem Kirchenportal absetzen dürfe, und der Polizist nickte. Ich kletterte mühsam aus dem Auto und wartete im Kirchenvorraum. Während andere Leute an mir vorbei in die Kirche gingen, entdeckte ich Twyla, die an einem Tisch kurz hinter dem Portal saß. Vor ihr stand eine durchsichtige Plastikdose, in deren Deckel sich ein Schlitz befand.

Auf der Dose klebte ein Etikett mit der Aufschrift: »Bitte helfen Sie unseren Familien, ihre Kinder zu begraben.« Sie war bereits zur Hälfte mit Scheinen und Münzen gefüllt.

Als Twyla mich ebenfalls erblickte, winkte sie mich zu sich. Ich manövrierte mich durch die Türen und setzte mich auf den leeren Klappstuhl neben ihr. Sie beugte sich vor, um mich vorsichtig zu umarmen.

»Wie geht es dir, Mädchen?«, fragte sie.

Trotz meiner Blessuren ging es mir bestimmt besser als Twyla. Meine Wunden würden heilen, aber bei ihr sah das anders aus. »Es geht mir gut«, sagte ich. »Wie ich sehe, müssen Sie arbeiten.«

»Ja, wir hielten es für effektiver, wenn eine Angehörige hier sitzt«, sagte sie. »Und da bin ich nun. Bei sechs Jungen, die von hier stammen, brauchen wir pro Beerdigung mindestens viertausend Dollar, wir sollten also vierundzwanzigtausend Dollar einnehmen. Wir haben überall solche Dosen aufgestellt, aber das ist ein armer Bezirk. Wir können von Glück sagen, wenn wir sechstausend zusammenbekommen.«

»Wie wollen Sie den Rest finanzieren, oder glauben Sie, es wird ohnehin nicht zu schaffen sein?«

Twyla machte ein grimmiges Gesicht. »Ich glaube nicht, dass wir es schaffen. Aber wir tun, was wir können. Wenn die Spenden wenigstens dazu beitragen, dass die ärmeren Familien eine anständige Anzahlung auf die Beerdigung leisten können, können sie den Rest abstottern.«

Ich nickte. »Gute Idee.« Die Schmerztabletten verliehen mir den Mut zu sagen: »Schade, dass die Medien nicht einspringen. Schließlich profitieren sie von diesen Todesfällen. Sie sollten etwas spenden.«

Hoffnung glomm in Twylas Augen auf. »Das ist eine gute Idee«, sagte sie. »Wie dumm, dass ich nicht darauf gekommen bin. Was war da heute eigentlich bei Tom Almand los? Man hört die merkwürdigsten Dinge. Ist sein Sohn in Schwierigkeiten? Hallo, Sarah«, sagte sie und wandte sich einer Frau zu, die gerade hereinkam. »Danke für deine Unterstützung«, fügte sie hinzu, als die ältere Frau ein paar Dollarnoten in den Schlitz steckte.

»Hier ist zu viel los, um in Ruhe darüber zu reden«, sagte ich leise. Niemand hatte mich gebeten, nicht über den makabren Fund bei Tom Almand zu sprechen, aber ich wollte nichts weitertratschen. Chuck Almand würde schon bald genug ein Außenseiter sein, und ich wollte diese Entwicklung nicht noch beschleunigen. Obwohl viele Leute auf dem Land eine sehr pragmatische Einstellung zu Tieren haben, wären viele Einwohner von Doraville entsetzt gewesen, über die Qualen, die den Katzen, Eichhörnchen und dem armen Hund zugefügt worden waren - vor allem wenn es unter Umständen das eigene Haustier war. »Aber das ist kein Junge, den man gern zum Schwiegersohn hätte.«

»Sheriff Rockwell meint, die Leichen würden frühestens in einer Woche freigegeben, wenn überhaupt«, sagte Twyla. »Es ist schwer für uns, dass wir Jeff, nachdem er endlich gefunden wurde, noch nicht begraben dürfen.«

»Aber Sie wollen doch auch, dass Beweismaterial gefunden wird, das Hinweise auf den Mörder gibt.«

»Ich darf gar nicht daran denken, dass man ihn aufschneidet«, sagte Twyla.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Selbst das Glücksgefühl, das mir die Tablette bescherte, führte zu keiner Eingebung. Ich beschloss, lieber zu schweigen, und blickte über die vielen Köpfe in den Kirchenbänken hinweg. Die Mount Ida Church war innen größer, als man dies von außen vermuten würde. Die Kirchenbänke waren blank poliert, und auch der Teppich war neu. Vor dem Altar standen Staffeleien mit vergrößerten Fotos der Jungen, zu Füßen einer jeden lag ein Blumenstrauß. Ich wäre gern dorthin gegangen und hätte sie mir angesehen, da ich auf meine Art mit jedem dieser jungen Männer in Kontakt gekommen war, aber das wäre unhöflich, ja vermessen gewesen.

In einer der vorderen Bänke wimmelte es von Polizisten in Uniform. Ich erkannte Sheriff Rockwell an ihrer Frisur und glaubte auch Hilfssheriff Rob Tidmarsh zu entdecken, der die Tiergräber gefunden hatte.

Irgendwie waren uns die Bernardos zuvorgekommen. Ein paar Bänke weiter erhaschte ich einen Blick auf Xyldas nicht zu bändigenden roten Haarschopf sowie auf Manfreds platinblonde Stachelfrisur rechts daneben. Von hinten fielen die beiden gar nicht besonders auf. Viele hier hatten gefärbte Haare und gegelte Igelfrisuren.

Tolliver kam herein, das Gesicht von der Kälte gerötet. Er steckte eine Zwanzigdollarnote in den Schlitz. Er war überrascht, mich neben Twyla zu finden, beugte sich aber vor, um ihr die Hand zu geben und ihr noch mal sein Beileid auszusprechen. »Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns Ihr Bootshaus zur Verfügung stellen. Es ist wirklich ein tolles Gefühl, eine eigene Unterkunft zu haben.« Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, mich dafür zu bedanken, und ärgerte mich über mich selbst.

»Es tut mir sehr leid, dass Harper verletzt wurde«, sagte Twyla. Als ich feststellte, dass ich nicht die Einzige war, die etwas Wichtiges vergessen hatte, ging es mir schlagartig besser. »Ich hoffe, derjenige, der das getan hat, wird gefasst, und ich bin mir sicher, dass es derselbe Mistkerl war, der unseren Jeff ermordet hat. Aber ich habe noch etwas vergessen«, sagte sie und drückte mir einen Scheck in die Hand. Ich nickte und steckte ihn in Tollivers Brusttasche. Dann liefen wir den Mittelgang hinunter, um einen Sitzplatz zu ergattern.

Wir blieben vor einer Bank stehen, in deren Mitte noch ein paar Plätze frei waren, und als die Sitzenden meinen Gips sahen, waren sie so nett aufzurutschen, damit wir uns an den Rand setzen konnten. Ich bedankte mich wiederholt. Es tat gut, sich neben Tolliver auf das weiche Polster sinken zu lassen. Wir saßen weit genug von der Tür entfernt, um nicht unter dem kalten Luftzug zu leiden, der mit jedem Neuankömmling hereinkam.

Langsam erstarb das Gemurmel, und die Gemeinde schwieg. Die Türen öffneten und schlössen sich nicht mehr. Pfarrer Garland kam heraus, er wirkte sehr jung und irgendwie liebenswert. Aber seine Stimme klang alles andere als liebenswert oder friedlich, als er die Bibelstellen ankündigte, die er für diesen Anlass ausgewählt hatte. Er habe eine Passage aus dem Buch des Predigers Salomo herausgesucht, sagte er und begann zu lesen. »Alles hat seine Zeit...«, hob er an.

Um mich herum nickten alle mit dem Kopf, während Tolliver und ich diese Bibelstelle natürlich nicht kannten. Wir hörten aufmerksam zu. Wollte er damit sagen, es sei an der Zeit gewesen, dass diese Jungen starben? Nein, vielleicht lag die Betonung auf »Klagen hat seine Zeit«. Damit war selbstverständlich die Gegenwart gemeint. Anschließend las er aus dem Römerbrief vor. Der rote Faden, der die einzelnen Stellen miteinander verband, war die Mahnung, rechtschaffen zu bleiben, in einer Welt ohne Rechtschaffenheit. Die Stellen klangen unheimlich passend.

Zu behaupten, die Gemeinde habe die Morde gelassen hinzunehmen, war nicht möglich, genauso wenig wie die Aufforderung, die Einwohner von Doraville sollten auch die andere Wange hinhalten. Es war schließlich nicht die Wange der Einwohner gewesen, die geschlagen worden war. Man hatte ihnen ihre Kinder genommen. Dass weitere Kinder geopfert würden, kam nicht infrage, egal, wie viel noch aus der Bibel vorgelesen wurde.

Nein, Doak Garland war schlauer, als er aussah. Er sagte den Leuten von Doraville, dass sie weiterhin auf Gott vertrauen sollten, um über diese schwere Zeit hinwegzukommen, und dass Gott ihnen bei dieser schwierigen Aufgabe helfen würde. Dagegen konnte niemand etwas sagen. Nicht hier, nicht an diesem Abend. Nicht angesichts der Fotos, die die Gemeinde anstarrten. Noch während ich sie ansah, stellte ein Hilfssheriff zwei weitere Staffeleien dazu, die allerdings frei blieben. Zwei der Jungen waren Fremde gewesen. Ich war gerührt.

»Das sind Kinder unserer Gemeinde«, sagte Doak. Er wies auf die Fotos. Dann zeigte er auf die beiden leeren Staffeleien. »Und das sind fremde Kinder. Aber sie wurden mit unseren ermordet und verscharrt, und wir sollten auch für sie beten.«

Eines der Fotos war so eine Aufnahme, wie sie Jungs für das Album ihrer Highschool-Footballmannschaft machen. Es zeigte einen finster dreinblickenden Jungen, der unglaublich tough aussah... Ich hatte ihn in seinem Grab gesehen. Man hatte ihn zusammengeschlagen und zerstückelt, so lange gefoltert, bis er nicht mehr konnte, und ihn jeglicher Männlichkeit beraubt. Plötzlich schien mir die Tragik des Ganzen unerträglich. Als Doak Garlands Stimme während seiner Predigt immer lauter wurde, liefen mir die Tränen aus den Augen. Tolliver zog ein paar Taschentücher aus seiner Hosentasche und tupfte mir das Gesicht ab. Er wirkte ein wenig erstaunt. Bei keinem meiner Aufträge hatte ich je so reagiert, egal, wie furchtbar sie gewesen waren.

Wir sangen ein, zwei Lieder, beteten lang und laut, und eine Frau fiel in Ohnmacht, woraufhin man ihr in den Kirchenvorraum half. Ich schwebte auf einer rosa Schmerzmittel-Wolke durch den Gottesdienst und weinte, wenn mich meine Gefühle übermannten. Als der Krankenhausverwalter Barney Simpson mit dem Klingelbeutel herumging, um weitere Spenden für die Beerdigungen einzusammeln, sah ich einen Mann zwei Bänke weiter vorn den Kopf drehen, um den Klingelbeutel an seinen Nebenmann weiterzureichen. Zu meiner großen Überraschung war augenscheinlich Tom Almand zum Gottesdienst gekommen. Er hatte seinen Sohn dabei, was mir ganz eindeutig missfiel. Der Psychologe hätte mit dem Jungen zu Hause bleiben müssen. Chuck hatte ein schweres Päckchen zu tragen. Er sollte sich nicht an einem Ort aufhalten, wo nichts als Trauer und Entsetzen herrschten. Oder sollte er auf diese Weise daran erinnert werden, dass andere schlimmere Probleme hatten? Ich bin kein Psychologe. Vielleicht wusste sein Vater, was er tat.

Mit meiner gesunden Hand drückte ich die von Tolliver. Er sah mich forschend an. Er war nervös, und ich spürte, dass er überall lieber gewesen wäre als hier. Ich wies mit dem Kinn auf Tom und Chuck Almand. Nachdem er die Menge eine Weile verständnislos abgesucht hatte, warf mir Tolliver einen vielsagenden Blick zu, zum Zeichen, dass er sie entdeckt hatte. Als könnte er spüren, dass wir ihn ansahen, drehte sich Almand ein wenig zur Seite und blickte uns direkt an. Ich hätte erwartet, dass er angewidert oder wütend oder verängstigt dreinschauen würde. Was geht im Vater eines solchen Kindes vor? Ich wusste es nicht, hätte aber gedacht, dass er schmerzliche, äußerst widersprüchliche Gefühle empfand.

Doch Tom Almands Gesicht war völlig ausdruckslos. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich erkannte.

Das war wirklich gruselig. Ich hätte noch vierzig Dollar in den Klingelbeutel getan, wenn ich Almands Gedanken hätte lesen können.

»Hu«, machte Tolliver, und das sagte alles.

Dann war der Klingelbeutel herumgegangen, und es herrschte wieder aufmerksames Schweigen. Als sich in der ersten Reihe ein untersetzter Mann in einem schlecht geschnittenen Anzug erhob und zum Pult ging, wurde die Menge unruhig.

»Für alle, die mich noch nicht kennen: Ich bin Abe Madden«, sagte er, woraufhin neuerlich ein Raunen durch die Menge ging. »Ich weiß, dass mir einige hier vorwerfen, nicht früher mitbekommen zu haben, dass diese Jungen ermordet worden sind. Vielleicht denken Sie auch, dass ich nur sah, was ich sehen wollte. Ich wollte, dass es diesen Jungen gut geht, dass sie nur abgehauen sind, um sich die Hörner abzustoßen. Ich hätte gründlicher nach ihnen suchen müssen, mehr Fragen stellen müssen. Mein eigenes Revier hat mir das zu verstehen gegeben.« Gut möglich, dass er bei diesen Worten Sheriff Rockwell ansah. »Manche Kollegen schlugen sich auch auf meine Seite. Nun, heute wissen wir, dass ich unrecht hatte, und ich bitte Sie alle um Vergebung für den großen Fehler, den ich begangen habe. Ich war Ihnen verpflichtet, als ich das Revier leitete, und ich habe Sie enttäuscht.« Daraufhin ging er wieder zurück an seinen Platz.

So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wie viel Stolz musste dieser Mann heruntergeschluckt haben, um das zu tun...

Tolliver war weit weniger beeindruckt. »Jetzt hat er gebeichtet und um Vergebung gebeten«, flüsterte er. »Jetzt kann niemand mehr mit dem Finger auf ihn zeigen, er hat für seine Schuld gebüßt.«

Für jede Familie sprach ein Angehöriger, der eine kurz, der andere ausführlich, aber kaum einer schwor Tod und Verderben. Angesichts dieser Verbrechen hatte ich mit homophoben Hasstiraden gerechnet, aber das war nicht der Fall. Die Wut richtete sich gegen die Vergewaltigung an sich, nicht gegen die sexuellen Präferenzen des Vergewaltigers. Nur zwei Angehörige sprachen von Rache, und auch sie blieben streng innerhalb des gesetzlichen Rahmens und beschränkten sich darauf, dass man den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen müsse. Es gab keinerlei Lynchreden, keine geballten Fäuste, nur Trauer und Erleichterung.

Der letzte Redner sagte: »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es vorbei ist. Es werden keine weiteren Söhne sterben.« Bei diesem Satz sah ich, wie Bewegung in die Bank der Bernardos kam. Manfred umklammerte Xyldas Arm, und sie sah ihn an. Sie wirkte wütend, als müsste sie dringend etwas loswerden, aber kurz darauf ließ sie es gut sein.

An diesem Punkt hätten wir gehen können, denn vom restlichen Gottesdienst bekam ich nicht mehr viel mit. Mir war schwindelig und übel, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als meinen Kopf an Tollivers Schulter zu lehnen und zu schlafen. Aber das kam natürlich nicht infrage, also konzentrierte ich mich darauf, aufrecht sitzen zu bleiben und die Augen offenzuhalten. Endlich war der Gottesdienst vorbei, und wir sangen das letzte Lied.

Danach durften wir gehen. Ich verließ die Kirchenbank als Erste, da ich ganz am Rand saß. Ein grauhaariger Mann im Overall ergriff meine Hand. »Danke, junge Dame«, sagte er und ging dann ohne ein weiteres Wort aus der Kirche. Er war nur der Erste gewesen, der versucht hatte, mich zu berühren, sei es durch eine leichte Umarmung, einen Handschlag oder ein Schulterklopfen. Jede Berührung ging mit einem »Danke« oder einem »Gott segne und beschütze Sie« einher, und ich war jedes Mal wieder aufs Neue überrascht. So etwas war mir noch nie passiert. Und ich war mir sicher, dass es sich nie wiederholen würde. Doak Garland umarmte mich, als wir zu ihm ans Portal kamen. Seine weißen Hände ruhten nur ganz leicht auf meinen Schultern, um mir nicht wehzutun. Der mich um Längen überragende Barney Simpson streckte die Hand aus und tätschelte mich vorsichtig. Parker McGraw sagte, »Gott segne Sie«, und Bethalynn weinte, den Arm um den Sohn gelegt, der ihr noch geblieben war.

Niemand stellte mir auch nur eine einzige Frage, wie ich die Jungen gefunden hatte. Die Einwohner von Doraville schienen fest daran zu glauben, dass Gottes Wege unerforschlich waren und seine Gerichte unbegreiflich.

Das unbegreifliche Gericht war natürlich ich.

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